Es war grau und naßkalt, als die drei Jungen an den Landungsbrücken
und Fähre VII vorbei, zum Fischmarkt stiefelten. Hans spielte den
Leithammel. Er hatte schon drei Monate an Bord verbracht. Der geborene
Seemann war ihm anzusehen, denn er lief schon recht breitbeinig, und der
weite Schlag seiner Klapphose flatterte zünftig um seine staksigen
Beine. Dabei erzählte er von seinem Kapitän und seinem Steuermann,
von England und Schweden, und was er sonst schon alles an Bord erlebt
hatte und das war nicht wenig.
So näherten sie sich dem Fischmarkt. Auf der Kleidung der Jungen
hatte sich ein Grauschleier winziger Wassertropfen gelegt. Ihre feuchten
Gesichter glänzten. Hier in diesem vom Bombenkrieg verschontgebliebenen
Teil der Stadt, roch es überall nach Seeluft, gesalzenem Hering,
frischem Fisch, Teer, Schmiere und nach 150 Jahre Arbeit und Schweiß.
Links plätscherte die Elbe. Schiefgedrückte Kantsteine trennten
den holprigen Gehweg von der breiten kopfsteingepflasterten Straße
bis hinunter zur Ufermauer. Auf der anderen Seite aber lehnten sich alte,
meist zwei- und dreistöckige Fachwerkhäuser mit schiefen Giebeln
und kleingefächerten Fenstern eng aneinander. Sie erinnerten Karl
Meiners an seine Kindertage in der Mauerstraße. Es gab nur einen
Unterschied: Die Gebäude in der Mauerstraße waren reine aneinandergeklebte
Wohnhäuser, hier in der Nähe des Fischmarktes jedoch zeugten
Läden und Büros von Maklern, Schiffs- und Fischhändlern,
und einige Wirtschaften, kleine Kööminseln, zu ebener Erde von
einem sich noch immer bewegenden Geschäfts- und Handelsleben. Enge
Durchfahrten führten auf Hinterhöfe. Alte Fässer, zerschlissenes
Tauwerk, zerschlagene Fischkisten und allerlei Ausrüstungsgegenstände
von Schiffen lagen vieler Orts herum. Hier und da waren noch hohe zweiräderige
Handkarren mit einer großen Ladefläche im Gebrauch, auf denen
die Ausrüstungen zu den Fischkuttern und -dampfern am Kai befördert
wurden. Es waren die sogenannten 'Schottschen Karren'.
Welch ein Unterschied zum Leben und Treiben rund um die Alster, wo die
Menschen die Nase recht hoch trugen und die Bäume sich vornehm zunickten,
wo eine Duftwolke nach der anderen die schöne frische Alsterluft
verschandelte.
Wo Menschen im Film auf Reisen gehen, sei es auf dem Bahnhof, sei es am
Kai, da werden Tücher geschwenkt. Als die 'Hein Bolck' ablegte, winkte
ihr nicht einmal der Arbeiter nach, der die Leinen an Land los warf. Karl
Meiners war enttäuscht, das Auslaufen hatte er sich anders vorgestellt.
Wie, daß konnte er nicht sagen, jedenfalls nicht so sang- und klanglos.
Auch die Holzpier, an der die 'Hein Bolck' nun über acht Tage gelegen
hatte, döste still vor sich hin, sie kannte das Gehen und Kommen
der Schiffe, es war ihr Alltagsgeschäft.
Heller Himmel, blaues Wasser, hohe Wolken, Sonnenschein und ein eisiger
Ost-Nord-Ostwind umgaben die 'Hein Bolck', als sie nachmittags Travemünde
passierte, um nach Wismar zu verholen. Nachmittags um 4 Uhr bis abends
8 Uhr sollte Karl Meiners seine erste Wache zusammen mit Fritz und Ewald
Pohl gehen, der nun das Schiff als Kapitän fuhr. Fritz stand am Ruder,
Karl sah ihm beim Steuern zu. Fritz bemühte sich, ihm das Steuern
zu erklären, wann er das Ruder legen und wann Gegenruder nötig,
um das Schiff auf Kurs zu halten.
Nach einer Weile fragte Ewald Pohl, der Kapitän, ob Karl nun begriffen
habe, wie ein Schiff zu steuern sei, und ergänzte sogleich, daß
es nicht danach aussehe. Dann erklärte er, die runde Scheibe im Kompaß
sei die Rose, die die Himmelsrichtungen anzeige. Vorne der schwarze Strich
am Kompaßgehäuse aber sei der Steuerstrich. Nun müsse
er sich bemühen die Gradzahl, des zu steuernden Kurses möglichst
mit dem Steuerstrich in einer Linie zu halten. "Kiek, Fritz stüert
nu 55° , kannst sehn, dat liggt hier an. Bi't Stüern mußt
ümmer an denken, dat sik dat Schipp um de Kompaßroos dreiht.
Kummst mol vun Kurs, mußt dat Roor na den Kurs to dreihn, also na
de Gradtall, de du stüern schallst. Aver ümmer een beten sutje
un mit Geföhl, sonst speelt dat Schipp verrückt. Hest dat verstohn?"
Karl Meiners nickte pflichtschuldig. Doch da waren auf einmal zu viele
Begriffe auf ihn eingestürmt: Kurs ,Steuerstrich und Kompaßrose,
Ruder und Gegenruder. All diese Dinge sogleich zu ordnen, jedes Drehen
des Ruders und seine Folgen sofort zu erfassen war mehr als man von einem
Jungen, der zum erstenmal ein Schiff steuern sollte, verlangen konnte.
"Good" sagte der Alte, "denn stell di an't Roor un wies
wat du kannst. Du Fritz, stellst di neben em un paßt op."
"55°", sagte Fritz.
"55°", wiederholte Karl Meiners und stellte sich hinter
das Ruder. Daß die Kurse und jede andere Order auf der Brücke
wiederholt werden müssen, hatte Fritz ihm einige Tage vorher beim
Messing putzen im Ruderhaus erzählt. Karl Meiners mühte sich
den Kurs zu steuern. Fritz paßte auf und griff auch mal mit in die
Speichen, wenn das Schiff vom stärker werdenden Wind und dem zunehmenden
Seegang von Kurs gedrängt wurde. Ewald Pohl stand mit dem Rücken
zum Fenster und beobachtete Karl Meiners mit dunklen lauernden Blicken,
die den Jungen verunsicherten.
Mit jeder Meile, die sie Travemünde achteraus ließen, wurde
der Abstand zur Küste an Backbord größer. Die Wellenberge
wurden höher, das Ballastschiff begann zu schlingern.
Fritz sah auf die Uhr. "So, ik mutt daal in de Maschien un afsmeren."
"Is good", sagte der Alte. Fritz ging. Das Schiff schlingerte
heftiger, Spritzwasser sprühte vom Wind zerstäubt über
Deck und Luken. Karl Meiners starrte auf den Kompaß, in seiner Kehle
würgte es, er mußte aufstoßen. Ihm wurde übel.
Eine größere Welle hob den Bug, saugte und drückte; die
'Hein Bolck' luvte an. Karl Meiners legte Gegenruder. Als das Schiff zurück
drehte, reagierte er nicht sofort und kam zu spät mit dem Ruder auf,
das Schiff drehte über die Kurslinie hinweg. Da schrie der Alte ihn
wütend an: "Nu paß doch op, du Idiot! Sühts doch
dat dat Schipp na Stüerbord dreiht, legg dat Roor gegen. Karl Meiners
wurde nerös; in seinem Magen rumorte es. Angst blockierte sein Denken
und er legte das Ruder den falschen Weg. Da sprang der Alte hinzu, stieß
Karl Meiners mit dem Körper zur Seite, griff selbst in die Speichen,
brachte das Schiff auf Kurs und schnaubte: "Idiot, nu paß op,
sonst ..."
Karl Meiners kämpfte gegen die Seekrankheit. Das Würgen in seiner
Kehle drückte stärker. Der Alte stand mit dem Rücken zum
Fenster und sah ihm zu. Karl Meiners mußte aufstoßen, aufsteigende
Hitze trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Er schluckte mehrmals
trocken, um den quälenden Druck im Hals zu lindern und war doch machtlos
den Reaktionen des Körpers ausgesetzt, der sich gegen die ungewohnten
Bewegungen des Schiffes auf seine Art wehrte.
"Wat nu", griente der Alte, "kriggst nu al dat Kotzen?"
Karl Meiners konnte nichts sagen. Er wagte schon nicht mehr den Mund zu
öffnen. Jeden Moment mußte die halbverdauten Speisen aus ihm
herausbrechen. Er sah sich hilflos um. Wenn Fritz nur käme...
Da stieß Ewald Pohl ihn abermals zur Seite, ergriff das Ruder und
schrie: "Rut mit di, du Swien, aver flink, oder wullt du uns hier
dat Roorhuus vullspiegen!"
Karl Meiners eilte aus dem Ruderhaus, hangelte sich die Steigeleiter vom
Roof herunter an Deck. Das Achterschiff hobt sich, fiel in ein Wellental,
warf sich auf die Seite und krängte nach Steuerbord. Noch hielt er
sich krampfhaft an der Steigeleiter fest. Im nächsten Moment kam
ihm dieVerschanzung entgegen. Er griff danach. Lehnte sich darüber
und schon brach es aus ihm heraus. Etwas später stürzte auch
Werner aus seiner Kombüse, um Rasmus zu opfern. Was die Jungen von
sich gaben, das trug der Wind achteraus. Dort kreischten die Möwen
und stürzten sich auf jeden Brocken.
Nach dem Erbrechen fühlte Karl Meiners sich etwas wohler. Travemünde
und die Küste strahlten im Sonnenschein. Eine Wolke schob sich vor
die Sonne, der Schatten glitt über das Wasser auf das Schiff zu,
das gerade von einer Welle gehoben wurde, um gleich darauf in ein Wellental
zu rutschen. Und wieder mußte er spucken.
Der Alte schaute von oben aus dem Ruderhaus auf die Jungen herab und fragte
hämisch: "Na, wo geiht. Paßt man op, wenn de brune Ring
kummt, de mööt jümm wedder daalschlucken, denn dat is de
Mors."
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